Grenzerfahrung am Kilimanjaro

Grenzerfahrung am Kilimanjaro

25. Februar 2024

Unser Autopilot

Um den Anforderungen des Alltags zu genügen, hat unser Gehirn Mechanismen geschaffen, die effiziente und schnelle Entscheidungen möglich machen. Richard Graf nennt diese in seinem Buch „Die neue Entscheidungskultur“ Neuronale Emotionale Programme (NEP).

Werden wir mit einer neuen Herausforderung konfrontiert, die in keine der bisherigen Erfahrungen passt, braucht es unser Kognitionssystem, diese zu bewältigen. Wir wechseln dann aus unserer Komfortzone in unsere Lernzone. Taucht diese Herausforderung wieder und wieder auf, setzt ein Trainingseffekt ein, der, wenn er für uns zu einem zufriedenstellen Ergebnis führt, im Emotionssystem als NEP abgespeichert ist. Auf dieses Programm wird zurückgegriffen, wenn ein Reizmuster unserer Sinnesorgane signalisiert, dass es für diese Situation schon ein Programm gibt. Das wird dann – ohne neu zu denken – abgefahren. Das geschieht schnell und verbraucht keine zusätzliche Energie unse-res Gehirns.

Nebenbei ist das der Effekt, der ein scheinbares Multitasking möglich macht. Wenn ein NEP läuft, hat unser Gehirn Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen – Kommunikation z. B.


Die Grenze(n)

Wird eine (oder parallel mehrere) Herausforderung(en) so groß und/oder ist das Anforde-rungsniveau so hoch, dass sie uns überfordert, wechseln wir direkt in unsere Panikzone. Die dann auf unser Nervensystem einprasselnden Eindrücke lösen Angst (führt zu Erstarrung), Ekel (führt zur Flucht) oder Wut (führt zu unkontrollierten Angriffen) aus. Auch eine Kette von Angst, über Ekel zur Wut sind möglich. Die einzige Möglichkeit zum rationalen Handeln besteht darin, diese Situation sofort zu verlassen und sich in die Sicherheit eines bekannten Umfeldes zu begeben. Auch der Kontakt zu Menschen, denen man vertraut, ist in einem solchen Fall sehr hilfreich.Wenn man sich seiner Grenze / seinen Grenzen stellen möchte, ist es sehr wichtig, dies nicht allein zu tun. Es braucht mindestens eine Bezugsperson, von der man weiß, dass sie solche Situationen schon bewältigt, hat bzw. von der man der festen Überzeugung ist, dass sie diese Herausforderung bewältigen kann. Es braucht also ein bedingungsloses Vertrauen.


Ganz da sein

Ich habe mich entschlossen eine solche Grenzerfahrung anzugehen. Auf meiner „Bucket List“ stand: „Auf einen hohen Berg steigen“.
Der höchste Berg, den man ohne Klettererfahrungen besteigen kann, ist der Kilimanjaro (knapp 6.000 m hoch). Genau den habe ich mir für diese Grenzerfahrung ausgesucht.
Im Vertrauen darauf, dass der Veranstalter genug Erfahrungen bei der Organisation und der verantwortliche Bergführer das notwendige Know How besitzt, habe ich mich der Herausforderung gestellt.

Die Organisation war super. Der Bergführer hat versagt. Er hat sich mehr als Gast gesehen und die Verantwortung für Entscheidungen auf die einheimischen Bergführer abgewälzt. Trotzdem ist es gut gegangen. Basis des Erfolgs war ein gesunder Blick auf mich selbst und die Kompetenz, zu erkennen, wann mein Körper seine Grenze erreicht hat. Hier haben andere (Grenz-)Erfahrungen dazu beigetragen, nicht in eine Überforderungssituation zu gelangen. Außerdem hat die Gemeinschaft der übrigen Gruppenmitglieder, die mit auf dieser „Reise“ waren, geholfen, die Entscheidung zu treffen, in 5.685 m Höhe (Gilmans Point) umzukehren.

Vorausgegangen war die Euphorie, die mit einem Start immer verbunden ist. Endlich, zwei Jahre nach dem Entschluss und nach mehr als einem Jahr Vorbereitung, ging es los. Am dritten Tag des Aufstiegs setzten Kopfschmerzen und Übelkeit ein. Das waren klare Symptome der Höhenkrankheit. Gegen Kopfweh gibt es Tabletten, gegen die Übelkeit fand ich kein Mittel. Zum Essen musste ich mich zwingen. Dank guter Ausrüstung konnte ich nachts gut schlafen. Das ist bei Nachttemperaturen deutlich unter null nicht selbstverständlich.

Tag 4 – der finale Aufstieg startete kurz nach Mitternacht. Pole, pole – langsam, langsam gingen wir die letzten 1.000 Höhenmeter an. Die Übelkeit nahm zu. Mechanisch setzte ich einen Schritt nach den anderen. Mit dem Sonnenaufgang, nach 7 Stunden Aufstieg, wurde das Ziel der ersten Etappe sichtbar – Gilmans Point. Angekommen konnte ich mich nicht einmal freuen. Auch das Umsehen und das Fotografieren habe ich vergessen. Die Übelkeit dominierte alles.

Aus unserer Gruppe, wir waren zu diesem Zeitpunkt 7, entschieden sich 4 weiterzugehen. Für mich stand fest, hier ist Schluss. Das war angesichts der Übelkeit notwendig. Und doch; so viel Zeit und Geld war in dieses Projekt geflossen und vor dem großen Ziel, dem Uhuru Peak (5.895 m) umkehren? Das fiel schwer.
Nicht selten führen Selbstüberschätzung und Gruppenzwang dazu, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Die Folgen sind dann schwer bzw. nicht kalkulierbar und aus einer gefährlichen Situation folgt genau in diesem Moment das Eingehen eines Risikos. (Nachzulesen im Buch: Fehler eins: Alles beginnt aus einem Grund von Eckard Jann)
Für Enttäuschung fehlte mir in dieser Situation der notwendige klare Blick. Am Ende des Tages standen Blutblasen an den Füßen (als alpines Greenhorn hatte ich nicht gewusst, dass man beim Abstieg die Bergschuhe anders zu schnüren hat – brachte starke Schmerzen mit sich) und Glückwünsche für die offizielle Besteigung des höchsten freistehenden Berges der Welt.

Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Ich wurde für meine Entscheidung umzu-kehren beglückwünscht. Wirklich? Das finale Ziel nicht erreicht und dafür Glückwünsche?
Letztlich ist das, bei genauem Hinsehen, die wichtigere Erkenntnis. Aufhören, wenn das Risiko zu hoch wird. Viel zu oft ist unser Blick für diese (manchmal lebensnotwendige) Entscheidung verstellt. Solche Sprüche wie, der 2. Platz ist der Platz des ersten Verlierers, Aufgeben ist etwas für Schwächlinge, … werden uns durch die Medien quasi in Dauerbeschallung mitgegeben und bestimmen vielfach unsere Entscheidungen.

Auf den Körper hören ist gesund. Er kennt seine Grenzen!

Fazit

Es gehört zu den schwersten Entscheidungen, die man fällen muss, mit Dingen aufzuhören, wenn sie zur Überforderung führen. Hilfreich sind in dieser Situation Personen, denen man vertraut und die einen „klaren“ Blick auf die Situation und die Leistungsfähigkeit haben und diese Entscheidung (mit-)tragen oder diese sogar für einen selbst treffen.

So ist für mich diese Grenzerfahrung ohne Schaden zu Ende gegangen. Es bleiben zwei Erfolge:

  1. Das Erreichen des Gilmans Point und damit die offizielle Besteigung des Kilimanjaro und
  2. die eigene Grenze erkannt und beachtet zu haben.

Ich wünsche Euch den Mut, solche Entscheidungen ebenfalls treffen zu können und das Vertrauen in Personen, die Euch bei dieser Entscheidung zur Seite stehen bzw. diese für Euch treffen.